Wenn ein Hund ins Haus einzieht – egal ob Welpe oder erwachsener Hund – und man sich mit Hundeschule und Erziehung auseinandersetzt, kommen einem unweigerlich die Themen Kommandos und Grundgehorsam in den Sinn.
Im Internet findet man bei der Recherche oft solche Phrasen wie „Diese Kommandos MUSS Ihr Hund UNBEDINGT beherrschen“ oder „diese Grundkommandos sind absolut unerlässlich“ oder „Der Grundgehorsam umfasst die folgenden Kommandos, die jeder Hund beherrschen MUSS“. Hier frage ich mich: Was passiert, wenn mein Hund diese Kommandos nicht kann? Ist er dann nicht lebensfähig? Kann ich mich nicht mehr mit ihm auf die Straße trauen, weil ich Angst haben muss, dass er unkontrolliert Menschen und Hunde anfällt? Wie kommen die ganzen Straßenhunde durch’s Leben, die noch nie ein „Sitz“ oder „Bei Fuß“ gelernt haben?
Was ist überhaupt dieser sagenumwobene Grundgehorsam?
Für die meisten umfasst er die Kommandos: Sitz, Platz, Bleib und Hier (Rückruf). Je nachdem welchen Trainer oder welche Quelle man befragt, können noch Leinenführigkeit, Fuß und Aus/Nein dazugezählt werden.
Entscheidende Punkte wie Sozialverträglichkeit mit Artgenossen, Belastbarkeit in stressigen Situationen (z.B. belebte Innenstadt), entspannt im Auto mitfahren können, alleinbleiben, selbstständig zur Ruhe kommen, werden hier vollkommen außen vorgelassen. Was nützt es mir, wenn mein Hund alle Grundkommandos beherrscht, er mir aber die Bude zerlegt sobald ich ihn länger als 5 Minuten alleinlasse? Was hat mein Hund davon, wenn er zwar perfekt Bei-Fuß-laufen kann, aber nie gelernt hat, wie höflicher Sozialkontakt mit einem Artgenossen aussieht? Ist es wirklich entspannt für mich, wenn mein Hund zwar das „Bleib“ beherrscht, aber dabei stark hechelt und bellt, weil er nicht verstanden hat, wie ruhiges Warten aussieht?
Machen wir uns und unseren Hunden das Leben nur selbst schwer indem wir vor allem in der Anfangszeit soviel Zeit, Geld und Leckerchen in Kommandos investieren? Sollten wir aufhören, unseren Hunden Kommandos beizubringen? Sollten wir andere Schwerpunkte setzen?
Wann brauche ich überhaupt Kommandos?
Nehmen wir einmal an, der Hund würde immer das tun, was wir uns wünschten z.B. würde er an der Straße stehenbleiben, wenn wir stehenblieben und so lange warten bis auch wir weitergingen. Dann
wäre ein „Sitz“, „Platz“ oder „Warte“ völlig überflüssig.
Würde unser Hund sich gemütlich neben uns legen, während wir uns mit dem netten Nachbarn unterhielten bevor es zum Spaziergang losgeht, bräuchten wir kein „Platz“.
Halten wir fest:
Kommandos brauchen wir nur dann, wenn der Hund nicht von sich aus schon das Verhalten zeigt, was wir in dieser Situation für angebracht halten.
Anstatt also stupide irgendwelche Kommandos mit dem Hund zu trainieren, ist es viel sinnvoller:
1.
zu schauen, welches Verhalten der Hund von sich aus zeigt, das mir gefällt und dieses zu bestätigen.
Denn: Verhalten, für das ein Hund eine Belohnung erhält, wird er öfter zeigen und das ist genau das, was ich möchte. Somit spare ich mir in diesen Situationen schon ein Kommando.
2. mir meinen Alltag genau anzuschauen und zu überlegen, welche Kommandos mir das Leben wirklich erleichtern und die es mir auch wert sind, Zeit ins Training zu investieren. Hierbei sollte ganz genau überlegt werden, wie das erwünschte Verhalten vom Hund aussehen soll.
3. Üben, üben, üben – und zwar fair und freundlich!
4. Für
alles, was zwar nett, aber den ganzen Aufwand nicht wert ist: einfach alle Viere gerade sein lassen und die gute alte Methode Management anwenden.
Wenn mein Hund am Straßenrand nicht wartet, weil ich das Kommando kaum brauche oder es mir nicht wichtig genug ist, dann halte ich die Leine einfach kürzer, bevor er auf die Straße rennt.
Wenn mein Hund den Rückruf im Wald nicht beherrscht, weil er extrem jagdtriebig ist und ich viel lieber die Zeit mit meinem Hund kuschelnd auf der Couch verbringe anstatt den Rückruf systematisch
zu trainieren, dann bleibt mein Hund im Wald eben an der Schleppleine.
Seien Sie kreativ bei den Kommandos! Vielleicht reinigen Sie jedem Tag Ihrem Hund die Augen und brauchen ein Kommando, bei dem er seinen Kopf auf Ihr Knie liegt, damit Sie in Ruhe arbeiten können (Stichwort Medical Training). Vielleicht haben Sie einen kleinen Hund, den Sie vor größeren Artgenossen schützen möchten, wenn diese zu stürmisch angerannt kommen. Hier wäre ein „Spring“ in den Arm von Vorteil.
Um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Brauchen wir nun Kommandos?
Die Antwort lautet: Jein! Gut aufgebaut können sie einem in vielen Situationen das Leben erleichtern und sowohl Mensch als auch Hund Sicherheit geben. Um das zu erreichen, ist Zeit und gut strukturiertes Training notwendig. Es spricht absolut nichts dagegen, die volle Bandbreite der Kommandos mit dem Hund zu trainieren. Genauso ok ist es, dem Hund überhaupt keine Kommandos beizubringen.
Setzen Sie FÜR SICH die richtigen Prioritäten!
Die Kommandos, die mir wichtig sind und die ich WIRKLICH jeden Tag brauche werden regelmäßig geübt, sodass ich mir sicher sein kann, dass sie auch in höheren Erregungslagen gut funktionieren. Für alles andere betreibe ich Management. Das sieht vielleicht nicht so elegant aus wie ein perfekt sitzendes Kommando, aber ganz ehrlich: Perfektion ist unglaublich anstrengend und nur für bewundernde Blicke von anderen Menschen ist es mir die Mühe und Zeit nicht wert. Dafür verbringe ich meine Zeit lieber damit, meinen Hunden beim Erkunden der Welt zuzuschauen und mir neue Schnüffel- und Denkspiele für sie auszudenken.
Also: immer schön entspannt bleiben UND Augen auf bei der Kommandowahl!
Zur Entstehung dieses Fotos:
Amy (Hündin unten) kennt das Kommando "bleib" nicht und zeigte das Verhalten (nämlich das ruhige Stehen) von sich aus. Dieses wurde mit Lob bestätigt.
Simba (Rüde oben) befindet sich im "Bleib"-Kommando, aus dem er nach der Fotosession wieder entlassen wurde.
Foto: Steffen Stahl
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