… würde ich auch die Methoden anwenden, die so oft angepriesen werden? Oder wären sie ethisch und moralisch nicht zu vertreten? Schauen wir uns die Sache an:
Menschen und Hunde sind Säugetiere und leben in sozialen Strukturen. Menschen haben als empathische und soziale Lebewesen die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen. Dies fällt uns bei unseren Hunden allerdings schwerer als bei unseren Kindern, da wir nunmal keine Hunde sind, aber alle einmal Kind waren und wir uns an unsere Kindheit und unsere Entwicklung zum Erwachsenen erinnern können – wenn auch nicht an alles.
Die Gefahr, dass wir uns manchmal nur schwer in Hunde hineinversetzen können, besteht darin, dass wir Trainingsmethoden anwenden, die harmlos aussehen, aber fatale Folgen haben können. Daher schlage ich folgendes Gedankenexperiment vor: bevor eine neue Trainingsmethode angewendet wird, stellt man sich vor, man würde diese Methode bei einem Kind anwenden und nicht bei einem Hund. Das funktioniert natürlich nicht immer. Sie kann aber in einigen Fällen mehr Klarheit bringen.
Hier ein Beispiel:
Nehmen wir einmal an, Sie haben ein Kleinkind daheim, das gerade krabbeln gelernt hat und nun voller Neugierde die Wohnung erkundet. Alles wird genau beäugt und wenn die Gegenstände es zulassen in den Mund genommen. Das Kind ist völlig in dieser faszinierenden Welt versunken und findet alles, was Sie in Ihrer Wohnung haben spannend. Nehmen wir nun weiter an Ihr Kind hat ein besonderes Faible für Schuhe. Immer wenn es einen Schuh zu Gesicht bekommt, krabbelt es dorthin, nimmt den Schuh in die Hand und krabbelt entweder mitsamt des Schuhs weiter oder nimmt ihn in den Mund, um Geschmack und Konsistenz zu entdecken. Dass Straßenschuhe vielleicht nicht das ideale Spielzeug für Kinder ist, ist uns klar. Also: Was würden Sie tun?
Möglichkeit 1:
Ihnen ist klar, dass dies nur eine Phase ist und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Ihr irgendwann 18-jähriges „Kind“ nicht mehr auf die Idee kommen wird, Schuhe in den Mund zu nehmen, um darauf herumzukauen. Also bieten Sie Ihrem Kind einen anderen Gegenstand zum Spielen an und räumen alle herumliegenden Schuhe in den Schuhschrank. So ist die Wohnung gleich viel ordentlicher und da Ihr Kind die Schuhe nicht mehr sieht, kommt es auch nicht auf die Idee, diese zu nehmen. Irgendwann ist diese Phase vorbei und herumliegende Schuhe stellen kein Problem mehr dar. Höchstens für ordnungsliebende Menschen.
Möglichkeit 2:
Ihnen ist nicht klar, dass dies nur eine Phase ist und Sie sind sich sicher, dass Sie das Verhalten unbedingt unterbinden müssen. Sofort. Ein alternatives Spielzeug anzubieten kommt für Sie keinesfalls in Frage. Was würde das Kind da lernen? Dass es auch noch für den Schuhklau belohnt wird natürlich. Auch ein Verräumen der Schuhe ist keine Option. Das Kind MUSS lernen, dass Schuhe tabu sind. Also behelfen Sie sich einer List. Sie binden an einen Schnürsenkel eine Metalldose mit Nägeln und platzieren diese auf der Fensterbank. Nun heißt es: abwarten. Das Kind geht seinem natürlichen Erkundungsverhalten nach, entdeckt den Schuh und krabbelt voller Vorfreude darauf zu. In dem Moment in dem das Kind den Schuh greift und zu sich zieht, fällt die Dose laut scheppernd neben dem Kind auf den Boden. Das Kind erschreckt sich massiv und fängt an zu weinen. Natürlich sind Sie gleich zur Stelle, entweder um das Kind zu trösten oder um nochmals zu betonen, dass Schuhe tabu sind. Ab sofort macht das Kind einen großen Bogen um die Schuhe. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Die Schuhe können weiter in der Wohnung herumliegen und das Kind meidet sie.
Sie sehen: es gibt verschiedene Wege, die zum Ziel führen. Doch was Sie sich stets fragen sollten: welche Auswirkungen hat das auf mein Kind (meinen Hund), welche möglichen Nebenwirkungen hat die Methode UND möchte ich WIRKLICH so mit einem mir anvertrauten Lebewesen umgehen?
Schauen wir uns das für oben genanntes Beispiel an:
Möglichkeit 1:
Sie haben alle Schuhe weggeräumt, Ihr Kind hat keine Möglichkeit mehr, unerwünschtes Verhalten zu zeigen. Lernt es, dass es Schuhe ab sofort in Ruhe lassen soll? Nein. ABER: Da Sie wissen, dass diese Phase vorüber geht, muss es das Kind auch jetzt nicht lernen. Es passiert komplett automatisch. Ohne, dass Sie überhaupt etwas tun müssen. Sie lassen einfach die Zeit für sich arbeiten und Ihr Kind kann weiter unbeschwert und voller Neugier die Welt erkunden.
Möglichkeit 2:
Hat Ihr Kind gelernt, Schuhe ab sofort in Ruhe zu lassen? Auf jeden Fall! Hat das Kind den Schreckreiz mit Ihnen verknüpft? Vermutlich nicht. Was hat das Kind aber noch gelernt? Dass fröhliches durch die Gegend krabbeln und alles erkunden gefährlich sein kann und dass es besser ist kein Erkundungsverhalten mehr zu zeigen? Vielleicht.
Verhalten ist ein sehr komplexes Feld und wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es gibt sicherlich Kinder, die sich beim Herunterfallen der Dose zwar kurz erschrecken, aber sogleich diese als interessantes, geräuschemachendes Spielzeug für sich vereinnahmen. Es kann daher niemals mit 100%iger Gewissheit vorhergesagt werden, welche Reaktion auf eine gewisse Trainingsmethode erfolgt. Wir können hier immer nur in Wahrscheinlichkeiten sprechen. Aber ganz ehrlich: wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Kind neben das eine laut scheppernde Dose aus dem Nichts zu Boden kracht, NICHT erschreckt und NICHT anfängt zu weinen?
Was würden Ihre Freunde, Ihre Familie sagen, wenn Sie ihnen von Möglichkeit 1 erzählen würde, um das Thema „in den Griff zu bekommen“? Und wie würde die Reaktion ausfallen bei Möglichkeit 2? Wie fühlen Sie sich selbst, wenn Sie Variante 1/2 anwenden?
Haben Sie noch Lust auf ein weiteres Gedankenexperiment?
Hier ein Weiteres:
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind sitzt in seinem Zimmer und beschäftigt sich in aller Seelenruhe mit seinen Legobausteinen, die Sie ihm vorhin gegeben haben. Das Kind macht dabei keinen Lärm. Es sitzt einfach da und spielt. Sie können in der Zeit etwas lesen, arbeiten, den Haushalt machen, telefonieren oder worauf Sie sonst Lust haben. Das Kind ist so in das Spiel versunken, dass Sie fast jeglicher Beschäftigung ungestört nachgehen können.
Plötzlich kommt Ihnen dieser Kinderexperte in den Sinn, der in seinem letzten Beitrag sagte: „Kinder müssen lernen zu akzeptieren, dass ihnen jederzeit Spielzeug von den Eltern weggenommen werden kann. Schließlich kann es vorkommen, dass die Kinder anfangen, mit etwas Gefährlichem zu spielen und wenn sie es dann nicht gelernt haben, dann geben sie den möglicherweise giftigen Pilz auch nicht aus der Hand.“
Dann wird es höchste Zeit, das zu üben, denken Sie sich und gehen kurzerhand in das Zimmer Ihres Kindes, bücken sich und sammeln kommentarlos alle Legosteine ein und verlassen damit den Raum. Das Kind war so in das Spiel versunken, dass es im ersten Moment gar nicht versteht was los ist und Ihnen nur verdutzt hinterherschaut.
Das hat doch schon richtig gut geklappt, denken Sie sich, gehen wieder in das Zimmer und geben Ihrem Kind die Legosteine zurück. Das Kind schaut Sie immer noch, etwas verwirrt über Ihr Verhalten, an, fängt aber kurze Zeit später an, sich wieder mit den Legosteinen zu beschäftigen. Sie verlassen zufrieden den Raum. Das hat super geklappt.
Wichtig sei natürlich, so der „Experte“, das Verhalten zu festigen. Also warten Sie 20 min und wiederholen das gleiche nochmal. Nun passiert etwas Komisches: Ihr Kind lässt sich die Legosteine nicht einfach so wegnehmen sondern sagt stattdessen: „Meins!“ und will danach greifen. Da Sie aber größer und stärker sind, können Sie sich dennoch alle schnappen und den Raum verlassen. Sie warten nur einen kurzen Moment und geben Ihrem Kind alle Steine wieder.
Was denken Sie, was wird passieren, wenn Sie ein 3. Mal in den Raum gehen um die Steine zu nehmen? Wie fühlt sich das Kind, wenn es Sie sieht? Freut es sich über Ihr plötzliches Auftauchen im Zimmer? Wird es Sie fragen, ob Sie mitspielen wollen? Ist es möglich, dass Ihr Erscheinen negative Gefühle in Ihrem Kind auslöst? Haben Sie Ihrem Kind gerade beigebracht, Sie ab sofort misstrauischer zu beäugen, wenn es spielt und Sie sich nähern? Dass es sicherer ist, Papa/Mama sehr gut im Auge zu behalten, um sich im Notfall schützend über die Spielsachen zu werfen? Dass Ihre Nähe eine „Gefahr“ darstellt?
Sie können das Gedankenexperiment gerne weiterspinnen und überlegen, wie die unterschiedlichen Persönlichkeiten, die Kinder nunmal sind, reagieren würden.
Zur Übertragung auf unseren Hund: Was meinen Sie, wie sich Ihr Hund fühlen würde, wenn er ruhig und entspannt in seinem Körbchen liegend, sich mit seinem Knochen beschäftigt und Sie nehmen ihm den Knochen einfach weg? Was denken Sie, lernt Ihr Hund nicht genau das Gleiche, das auch Ihr Kind gelernt hat? Nämlich, dass Menschen in der Nähe einer Ressource nichts Gutes verheißen?
Dies waren nur 2 Beispiele, bei denen es hilfreich ist, die Trainingsmethode vor Anwendung am Hund gedanklich bei einem Kind durchzuspielen. Es gibt noch weitere, bei denen dies ebenfalls funktioniert.
Meine Empfehlung:
„Verkindlichen“ Sie das nächste Mal Ihren Hund, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob eine Trainingsmethode sinnvoll oder ein Fall für die Mülltonne ist.
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